Der Rattenzauber by Kai Meyer

Der Rattenzauber by Kai Meyer

Autor:Kai Meyer
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: MiMe books agency
veröffentlicht: 2012-12-23T16:00:00+00:00


Es war spät in der Nacht, als das Schreien begann. Mag sein, dass ich wach lag, mag sein, dass ich schlief; sicher ist, dass mich ein Heulen wie dieses selbst aus tiefstem Schlaf gerissen hätte. Es war ein Laut voller Menschlichkeit und Trauer, ein peinvoller Singsang, der anhob und absank wie die Brust eines Sterbenden. Er klang nach Grauen und Verlust, nach Wahn und schwindender Erinnerung.

Das Schreien kam von draußen, von der Gasse oder aus einem der angrenzenden Häuser. Ehe ich mich versah, saß ich aufrecht im Bett, schwang die Beine über die Kante. Der Schmerz war noch da, aber die Medizin des Einsiedlers unterdrückte ihn. Das dumpfe Pochen in meiner Brust fühlte sich an, als sei mir ein zweites Herz gewachsen. Vielleicht hatte ich eines nötig.

Ich stand auf und brauchte eine Weile, ehe ich schwankend auf beiden Füßen Halt fand. Vorsichtig machte ich einige Schritte vorwärts und bemerkte zu meinem Erstaunen, dass es besser ging als erwartet.

Nackt trat ich ans Fenster und stieß die Läden auf. Zum ersten Mal seit meiner Ankunft in Hameln war die Wolkendecke aufgerissen, und der Mond hing wie ein blindes Auge in der Schwärze des Himmels. Sein Licht floss als silbriger Schimmer über die Giebel und Dächer, doch immer noch schien es, als seien die Schatten stärker als der Mondenschein. Dunkelheit kauerte in jedem Winkel wie ein schlafendes Tier.

Die Schreie verstummten für einen Augenblick, nur um gleich darauf von neuem zu beginnen – noch lauter, noch verzweifelter. Überall erschienen nun fahle Gesichter in den Fenstern, hier und da flackerte eine Kerze auf. Unten in der Gasse erwachten die Schatten aus ihrem Schlaf, als die ersten Menschen aus den Häusern liefen und zum Quell des Gejammers eilten. Ich reckte mich weit über die Fensterkante hinaus, wie eine Galionsfigur am Bug eines Seglers, und wollte sehen, wohin sie liefen. Schon nach wenigen Schritten bogen die Männer und Frauen nach rechts und verschwanden hinter der Ecke des Gasthofs. Die Schreie mussten aus einem Haus an seiner Rückseite kommen. Ungeachtet meiner Verletzung und des erbärmlichen Zustands, in dem ich mich befand, beschloss ich, der Sache nachzugehen.

Ich zog mir die Kleidung über, eine langwierige, äußerst mühsame Prozedur, verbunden mit neuerlichem Schmerz. Meine größte Sorge war, dass die Wunde abermals aufbrechen würde, doch das verbrannte Fleisch nässte nur ein wenig. Hollbecks Tinktur verdankte ich, dass mir vor Pein nicht die Sinne schwanden. Im Hintergrund tickte der Schädel. Ich schenkte ihm keine Beachtung.

Benommen trat ich hinaus auf den Flur und öffnete die Hintertür, die zur Treppe an der Rückseite des Hauses führte. Sogleich schlugen mir Lärm und das Flackern von Fackeln entgegen. Rund ein Dutzend Gestalten stand vor einer ärmlichen Hütte. Ich kannte sie, ich wusste, wer dort lebte.

Ich beschleunigte meine Schritte, stieg geschwind die knarrende Holztreppe hinab. Das Licht der Fackeln badete mich in Helligkeit. Blutspritzer waren auf meiner Kleidung. Ich entdeckte sie, als ich den Fuß der Treppe erreichte und vorsichtig an mir herabsah, um nicht über die unterste Stufe zu stolpern. Blut auf meiner Hose und auf meinem Wams.



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